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DGCH
Deutsche Gesellschaft für Chirurgie

Medizin am Limit: Chirurgie braucht mehr Zeit für den Patienten

Berlin, Dezember 2016 – Zunehmender Personalmangel in der Pflege, auf Stationen und im Operationsdienst bei gleichzeitig wachsender Behandlungsbedürftigkeit einer älter werdenden Bevölkerung: Die Leistungsverdichtung in der operativen Medizin hat nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) bedenkliche Ausmaße erreicht. „Darunter leiden Patienten, aber auch Mitarbeiter“, warnt Professor Dr. med. Tim Pohlemann, Präsident der DGCH. Warum Chirurgen wieder mehr Zeit für die Betreuung am Krankenbett benötigen, erläutern Experten auf einer Pressekonferenz der DGCH am Mittwoch in Berlin.

„Die Situation wird in vielen Kliniken langsam bedenklich“, kritisiert Pohlemann. „Durch die zunehmende Leistungsverdichtung entstehen Lücken, die nur noch schwer zu überbrücken sind.“ Leidtragende seien die Patienten sowie das gesamte Behandlungsteam, für das es immer herausfordernder werde, den eigenen, sehr hohen Qualitätsansprüchen gerecht zu werden, erklärt der Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg/Saar.

So sei eine bedarfsgerechte Pflege der Patienten in der frühen Phase direkt nach der Operation auf chirurgischen Normalstationen aufgrund von Personalknappheit kaum noch zu leisten. „Bei den für den einzelnen Patienten zur Verfügung stehenden Pflegekapazitäten fällt Deutschland im internationalen Vergleich zunehmend zurück und unterscheidet sich bereits signifikant von skandinavischen Ländern“, berichtet Pohlemann. Während sich in Skandinavien auf einer Normalstation eine Pflegekraft um drei Patienten kümmert, beträgt dieses Verhältnis in Deutschland eins zu zehn.

Das spüren die Patienten. „Die Pflegekräfte haben kaum noch Zeit, nach dem Eingriff mit dem Patienten ausführlich zu sprechen“, so Pohlemann. Viele frisch Operierte müssten oft zu lange warten, bis das überlastete Personal kommen und helfen kann. „Auch gibt es kaum noch Möglichkeiten, älteren Patienten, die durch die technische Überwachung unruhig werden, eine Sitzwache zu stellen“, erläutert der DGCH-Präsident. Die Stärkung der Pflege ist daher auch ein zentrales Anliegen von Pohlemann im Rahmen seiner Präsidentschaft und beim anstehenden Chirurgenkongress vom 21. bis 24. März 2017 in München.

Doch auch die Klinikärzte arbeiten am Limit. Ihre Operationszeiten sind eng getaktet, alle 24 Stunden findet aufgrund des Arbeitszeitgesetzes ein Schichtwechsel statt. Folge: Die Aufklärung des Patienten erfolgt zwar immer formal korrekt einen Tag vor dem Eingriff, häufig jedoch durch einen Arzt, der bei der Operation gar nicht anwesend ist. „Das stellt eine enorme Belastung für den Patienten dar – er hat vor einer Operation meist Angst und will mit demjenigen sprechen, der ihn operiert“, betont Pohlemann. Damit fehle nicht selten Zeit für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, das in der Chirurgie von zentraler Bedeutung sei. „Das gilt auch für den Operateur, der während einer Operation häufig körperliche und psychische Höchstleistungen erbringen muss“, so Pohlemann.

Faktoren, die jenseits der klinischen Kerntätigkeit zusätzlich ärztliche Ressourcen binden, verschärfen den Mangel weiter. „Dazu zählen rigide Controlling-Vorgaben und aufwendige Dokumentationsprozesse, die aus unserer Sicht zu keiner erkennbaren Qualitätssteigerung führen“, berichtet Pohlemann. Hinzu kommen fehlende Zukunftsperspektiven und attraktive Karrierewege für junge Mediziner, gelegentlich auch Unverständnis für ärztliches Handeln auf Seiten der Verwaltung.

„All diese Faktoren fördern bei qualifizierten Chirurgen Frustration, Demotivation und letztlich Abwanderung“, kritisiert Pohlemann. Das könne sich der Medizinstandort Deutschland angesichts des spürbaren Nachwuchsmangels in der Chirurgie nicht leisten. Chirurgie sei immer ein Fach, das besonderer Rahmenbedingungen bedürfe, so Pohlemann. „Chirurgen brauchen mehr Freiheiten“, ist sich der DGCH-Präsident sicher. Sie müssten in Abläufe und Prozesse eingreifen und sie nach medizinischen Erfordernissen gestalten können. „Diese Voraussetzungen gilt es zu schaffen – im Zweifel mit weniger, dafür aber gut ausgestatteten Kliniken“, so Pohlemann.