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Deutsche Gesellschaft für Chirurgie

"Passion Chirurgie - Orthopädie & Unfallchirurgie" 09/2020

Reform der Notfallversorgung: eine Gleichung mit vielen Unbekannten

Die deutschen Notfallaufnahmen arbeiten am Limit. Personalmangel und der Ansturm der Patienten, die durchaus auch in anderen Strukturen versorgt werden könnten, sorgen dafür, dass die Wartezeiten oft fünf, sechs und mehr Stunden betragen. Ein Zustand, der so nicht hinnehmbar ist. Eine vorübergehende Besserung brachte nur der Corona-Lockdown. Die Notfallambulanzen blieben leer. Ein flüchtiger Moment der Entspannung.

Die Politik ist nicht tatenlos geblieben. Jens Spahn, der als produktivster Gesundheitsminister aller Zeiten in die Geschichtsbücher eingehen will, hat einen Referentenentwurf zur Reform der Notfallversorgung vorgelegt. Derzeit steht dem Patienten im subjektiven Notfall nach eigenem Ermessen die Einbeziehung der drei beteiligten Bereiche ambulanter Sektor, Krankenhäuser und Rettungswesen zur Verfügung. Mit der Reform der Notfallversorgung sollen die Patientenwünsche kanalisiert und eine „Patientensteuerung“ erreicht werden. An neue Begrifflichkeiten werden wir uns gewöhnen müssen. Die regional sehr unterschiedlich entwickelten Notdienststrukturen sollen in ein verbindliches System der integrierten Notfallversorgung (INV) überführt werden. Ziel ist die enge Verzahnung der ambulanten, stationären und rettungsdienstlichen Notfallversorgung.
Die zentrale telefonische Lotsenfunktion der INV übernimmt künftig das Gemeinsame Notfallleitsystem (GNL). Über das GNL werden Leistungen der medizinischen Notfallrettung, Krankentransporte und eine telemedizinische oder aufsuchende notdienstliche Versorgung „disponiert“. Die dazu nötige digitale Vernetzung erfordert Softwarelösungen, die allerdings erst noch geschaffen werden müssen.

Integrierte Notfallzentren (INZ) sollen an ausgewählten Krankenhäusern eingerichtet werden. Das INZ wird die erste Anlaufstelle für Patienten im Notfall sein. In den INZ erhalten die Patienten in Zukunft eine Ersteinschätzung des Versorgungsbedarfs. Im INZ soll entschieden werden, ob Patienten stationär in der Klinik oder ambulant versorgt werden.
Die ärztliche Mitsprache, wo Standorte für die integrierten Notfallzentren entstehen, ist nicht ausdrücklich vorgesehen. Hierüber entscheiden die erweiterten Landesausschüsse, in denen Kassen, Kassenärztliche Vereinigung und Landeskrankenhausgesellschaft vertreten sind.Und zu guter Letzt soll die medizinische Notfallversorgung der Rettungsdienste der Länder als eigenständige Leistung der medizinischen Notfallrettung anerkannt werden. Der Rettungsdienst wird damit Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung.

Das Gesetz soll bis Ende 2020 verabschiedet werden. Danach ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am Zug. Dieser muss für alle Bereiche des neuen Gesetzes eine Richtlinie beschließen: Wie die integrierten Notfallzentren ausgestattet werden sollen (Personal und Apparate), wie das Verfahren der Ersteinschätzung gestaltet werden soll und welchen Umfang die dort zu leistende notdienstliche Versorgung haben wird? Lassen wir uns überraschen!

Apropos G-BA, auftragsgemäß hat dieser vor gar nicht langer Zeit eine Regelung zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern beschlossen. Sinn der Maßnahme ist eine „bedarfsgerechte“ Verbesserung der Notfallversorgungsstrukturen in Deutschland.
Mit anderen Worten: Die Zahl der benötigten Zentren soll auf etwa 700 reduziert werden. Ob sich damit überfüllte Notfallambulanzen wirklich vermeiden lassen, ist eher fraglich.

Auf die Krankenhäuser kommt noch ein weiterer Beschluss des GBA zu. Die Richtlinie zur Versorgung der hüftgelenknahen Femurfraktur (QSFFx-RL). Eine deutliche Reglementierung der chirurgischen Versorgung. Diese tritt – Corona sei Dank – zum Glück erst am 1.1.2021 in Kraft. Nur die Kliniken, die die Mindestanforderungen der QSFFx-RL erfüllen, dürfen in Zukunft hüftgelenknahe Femurfrakturen versorgen. Zur Überprüfung der Anforderungen soll eine jährliche strukturierte Abfrage erfolgen. Davon unberührt muss weiterhin die externe Qualitätssicherung durchgeführt werden.

Wesentliche Neuerung ist, dass für die Notfallversorgung jeweils ein Arzt und eine Pflegekraft benannt werden müssen. Der Arzt muss über die Zusatzweiterbildung „Klinische Notfall- und Akutmedizin“, die Pflegekraft über die Weiterbildung „Notfallpflege“ verfügen. Für Patienten mit positivem geriatrischem Screening ist täglich geriatrische Kompetenz für die perioperative Versorgung zu gewährleisten. Dazu wird ein Facharzt für Geriatrie benötigt. Insgesamt sieben SOP´s müssen speziell für die Versorgung hüftgelenksnaher Frakturen nachgewiesen werden. Wer nicht in der Lage ist, die Patienten innerhalb von 24 Stunden zu operieren, fällt aus dem Versorgungssystem. Die Behandlung hüftgelenknaher Frakturen gehört zum Kerngeschäft jeder (unfall)chirurgischen Klinik. Es bleibt zu hoffen, dass die bürokratischen Hürden nicht dazu führen, dass die flächendeckende Versorgung dieser Verletzungen nicht mehr gewährleistet werden kann.

Immer neue Gesetze und Richtlinien des GBA lassen den bürokratischen Aufwand in den Kliniken exponentiell ansteigen. Es bleibt zu hoffen, dass die damit verbundene Distraktion von unserer eigentlichen Aufgabe – der optimalen chirurgischen Versorgung der uns anvertrauten Patienten – nicht genau das Gegenteil der intendierten Absicht des Gesetzgebers bewirkt.

Die Corona-Pandemie war und ist ein Stresstest für unsere Kliniken, den wir hervorragend bestanden haben. Die Leistungsfähigkeit insbesondere in der Notfallversorgung sollten wir unter allen Umständen erhalten. Trotz aller bürokratischen Hürden sollte unser Focus patientenorientiert bleiben. Die Patienten können und wollen wir nicht ändern, die Versorgungsstrukturen schon.

Prof. Dr. Michael Paul Hahn
Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie
Klinikum Bremen Mitte gGmbH
Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Göttingen
St.-Jürgen-Str. 1
28177 Bremen