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DGCH
Deutsche Gesellschaft für Chirurgie

132. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie mit ihren Fachgesellschaften

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

hiermit lade ich Sie sehr herzlich zum 132. Jahreskongress unserer Gesellschaft vom 28. April bis zum 1. Mai 2015 nach München ein. Gemeinsam mit den in der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie vereinten Fachgesellschaften, der Bundeswehr, dem Berufsverband der Deutschen Chirurgen und dem Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe findet der Kongress unter dem Motto „Chirurgische Heilkunst im Wertewandel“ statt. Neben den Gästen aus unserem Partnerland Frankreich sind auch Delegationen anderer internationaler Fachgesellschaften, so u.a. aus Österreich, Schweiz, England, USA und Japan, vertreten.

Unsere chirurgische Tätigkeit wird durch Werte definiert, und diese bestimmen dabei unser ärztliches Handeln. Das Kongressmotto „Chirurgische Heilkunst im Wertewandel“ umreißt jenes Spannungsfeld, in dem sich die Chirurgie gegenwärtig aufgrund des offenkundigen gesamtgesellschaftlichen Wertewandels, bedingt durch rasante ökonomische, demographische und globale Veränderungen, darstellt.

Der Patient als Partner auf Augenhöhe, „Shared decision making“ und Risikoadaptierung chirurgischer Indikationsstellung sind heute schon Realität unserer Berufspraxis, ebenso wie neue Versorgungsformen mit Auflösung klassischer Organisations- und Hierarchiestrukturen sowie stetig steigende Anforderungen an Qualitätsverbesserungen bei gleichzeitiger Ressourcenausschöpfung. Der Kongress soll diese Entwicklungen aufgreifen und Sie mit anwendungsorientierten Inhalten, aber auch nachhaltigen Ideen und Perspektiven zum angeregten Gedankenaustausch motivieren.

In den vier Themenkomplexen

  • Patientennutzen durch chirurgisches Können und chirurgische Technik,
  • Patientennutzen durch chirurgisches Management,
  • Patientennutzen durch chirurgische Wissenschaft und
  • Patientennutzen durch konservative Therapieoptionen

werden sich zahlreiche Sitzungen den aktuellen Standards, den zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten und den dazu notwendigen Schritten unter sich ändernden Rahmenbedingungen widmen. Erstmalig wird den konservativen Verfahren in der Chirurgie eine besondere Gewichtung gegeben, einem Segment, welches einen integralen, aber oft verkannten Bestandteil der Chirurgie darstellt.

Wie in den vergangenen Jahren werden die Sitzungen ergänzt durch Workshops und Trainingslabore. Geplant sind zudem zusammen mit der Industrie als Partner in der Weiterentwicklung des technisch chirurgischen Fortschritts „Breaking-News-Vorträge“, vor allem zu Implantaten unterschiedlicher Indikationsstellung. Besonders sehen wir spannenden Sitzungen mit dem Perspektivforum „Junge Chirurgie“ entgegen.

Auch dieses Mal werden wir den Gesellschaftsabend gemeinsam mit DGAV, DGKCH und DGG veranstalten, der in Münchens traditionellem Löwenbräukeller in entspannter Atmosphäre stattfinden wird.

Bereits jetzt lade ich Sie herzlich zu der Abschlussveranstaltung am Freitagnachmittag, 1. Mai 2015, ein, in der Professor Dr. Julian Nida-Rümelin, Direktor des philosophischen Lehrstuhls der Ludwig-Maximilians-Universität München und früherer Kulturstaatsminister, zum Thema „Die Ökonomisierungsfalle“ sprechen wird. Ein Thema, welches weiterhin für die Chirurgie von vorrangiger Bedeutung ist.

Ich bedanke mich bereits bei allen Fachgesellschaften, Berufsverbänden und weiteren Gremien sehr herzlich, die mich bei der Programmgestaltung unterstützen. Ohne Sie ist unser Jahreskongress undenkbar. Somit lade ich Sie auch im Namen der Präsidenten aller Fachgesellschaften und des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen noch einmal ganz herzlich nach München ein und freue mich schon jetzt auf Ihre zahlreiche Teilnahme.

Mit den besten Grüßen
Ihr

Prof. Dr. med. Peter M. Vogt
Präsident DGCH 2014/2015

28. April - 1. Mai 2015
ICM München

www.chirurgie2015.de


131. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie mit ihren Fachgesellschaften

Ansprache des Präsidenten anlässlich des 131. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Berlin, 25.3.2014

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

Nichts ist so beständig wie der Wandel! Sie alle kennen diesen Satz, der heute  wegen der digitalen Informationsverarbeitung und der Globalisierung von herausragender Bedeutung ist. Wir haben das Gefühl, dass sich die Welt immer schneller dreht und wenig von dem, was gestern relevant war, auch heute noch Gültigkeit hat. Lebenslanges Lernen ist zu einem der Schlagworte unserer Zeit geworden. Trotz dieser Entwicklungen haben allerdings die Themen, die uns langfristig beschäftigen, und die Werte und Überzeugungen, auf denen unser Handeln basiert, über viele Jahre und Jahrzehnte Bestand. In den roten Büchern der DGCH sind die sehr persönlichen Anmerkungen, Schriften und Notizen aller Präsidenten festgehalten. Diese Aufzeichnungen und die Reden der letzten Dekade zeigen, dass es bei allen Weiterentwicklungen unseres Fachgebietes um letztlich vier Herausforderungen geht, die uns wieder und wieder beschäftigt haben:

  • Heilen und Helfen mit chirurgischer Therapie
  • Gewinnung und Förderung des chirurgischen Nachwuchses
  • die Ökonomisierung und zunehmende äußere Einflussnahme und
  • die Bedeutung der Forschung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
auch wenn wir meinen, dass es heute schwieriger, zumindest deutlich anders als früher ist, so hilft der Blick in die Historie unserer Gesellschaft, um zu einer größeren Gelassenheit mit den Neuerungen und Änderungen unserer Zeit zu gelangen. Bereits K.H. Bauer hat im Jahr 1952 festgestellt: „Wir müssen kämpfen um die Freiheit unseres Berufsstandes. Es besteht kein Zweifel, dass wir trotz unseres unersetzlichen Wirkens und unseres großen Arbeitseinsatzes vielfach übergangen werden und ins Hintertreffen zu geraten drohen. Übergriffe von Krankenhausverwaltungen, Eingriffe des Staates verlangen Handeln. Was wir nicht selber tun, das wird mit uns getan.“ In Anbetracht immer neuer gesetzlicher Regulierungen, des Vorwurfes von zu viel Operationen und vor dem Hintergrund gestiegener gesellschaftlicher Forderungen nach einer Null-Risiko-Mentalität in der Chirurgie wird deutlich, dass auch unsere chirurgischen Vorfahren mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen hatten. Diese Zustände zu beklagen hilft wenig – wir sind aufgefordert zu handeln, zu informieren und uns zu positionieren, um auch zukünftig das zu sein, was die Gründe für unsere Berufswahl waren und sind: der Sachwalter der Interessen der uns anvertrauten Patienten.
Dies wird uns nur dann gelingen, wenn wir mit einer Stimme sprechen. Gerade in den letzten fünf Jahren zieht sich der Gedanke der „Einheit der deutschen Chirurgie“ durch die Reden meiner Vorgänger. Durch ein externes Gutachten, durch den Blick von außen auf dieses Projekt der Einheit ist die anfängliche Euphorie der Beteiligten gewichen. Es ist festzustellen, dass sich die DGCH organisatorisch, strukturell und personell weiter entwickeln muss, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Hier gilt es, neue Wege zu gehen – Stillstand ist Rückschritt! In Anerkennung der Bedeutung und Aufgaben der jeweiligen Fachgesellschaften muss es für die DGCH eine vordringliche Aufgabe sein, die Mitgliedschaft attraktiv zu gestalten. Die DGCH ist Repräsentant aller Chirurginnen und Chirurgen in Deutschland. Damit geht kein Hegemonialstreben einher, sondern sie möchte auf den uns einenden Gebieten wie Wissenschaft und Forschung, Weiter- und Fortbildung sowie Öffentlichkeitsarbeit den Chirurginnen und Chirurgen ein Bezugspunkt sein. Ich lade alle Fachgesellschaften und den Berufsverband der Deutschen Chirurgen zur gemeinsamen Gestaltung dieses wichtigen Zukunftsprojektes ein. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Zusammenführung unterschiedlicher Interessen deutlich mehr Zeit braucht als alle vorher gedacht haben. Diese Zeit sollten wir uns nehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die kommende Kongresswoche steht unter dem Motto „Chirurgie zwischen Faszination, Mut und Demut“. Mit diesem Dreiklang werden die Themen aufgegriffen, die sich wie ein roter Faden seit Jahrhunderten durch unser Fachgebiet ziehen.
Trotz der zum Teil als dramatisch erlebten Änderungen der Rahmenbedingungen -Nachwuchsmangel, demographischer Wandel, ökonomische Zwänge, öffentlicher Rechtfertigungszwang, um nur einige zu nennen - übt die Chirurgie über alle Spezialisierungen hinweg eine unverändert hohe Faszination aus. Diese Faszination wird nicht nur von Chirurgen, sondern auch von vielen Medizinstudenten, die der Chirurgie initial ablehnend gegenüberstehen, sowie von Laien erlebt – denken Sie nur an das große Interesse an Fernsehserien mit medizinischem Inhalt: früher „Schwarzwaldklinik“, heute „In aller Freundschaft, Der Bergdoktor und Dr. House“. Woher kommt diese Faszination, die uns dazu bewegt, Chirurg, in letzter Zeit vermehrt auch Chirurgin, zu werden? Aus meiner Sicht ist es die Kombination aus dem Erleben der Ästhetik der menschlichen Anatomie und der besonderen Atmosphäre eines Operationssaales sowie die chirurgische Technik mit der Verbindung von manueller Geschicklichkeit und des Einsatzes hochspezialisierter Instrumente, die diese Faszination ausmachen. Zusätzlich gepaart mit einem großen theoretischen Wissen und pathophysiologischen Kenntnissen resultiert in diesen komplexen Zusammenhängen der Erfolg, bisweilen auch der Misserfolg, der chirurgischen Behandlung. Chirurgie ist allerdings mehr als die operative Tätigkeit. Erst die korrekte Indikation und die gewissenhafte postoperative Nachsorge führen den perfekt ausgeführten Eingriff zum Erfolg. Dennoch ist es gerade die Operation, die durch das unmittelbare Handeln in einem auch zeitlich eng gesteckten Rahmen die Faszination unseres Berufes ausmacht.

Vor diesem Hintergrund hat die Chirurgie im Laufe der Zeit durch die stetigen technischen Verbesserungen erhebliche Fortschritte erzielt. Als relativ junger Zweig der akademischen Medizin hat die Chirurgie Ergebnisse erzielt, die kaum denkbar erschienen. Angetrieben von chirurgischen Pionieren, wurden auf dem Gebiet der Organtransplantation, der Polytraumaversorgung, der Gefäßchirurgie, der plastischen Chirurgie bei der Versorgung von Extremitätentumoren, bei Verbrennungen und auch in den anderen chirurgischen Subspezialitäten Behandlungserfolge erzielt, die - wenn auch oftmals nicht zur Heilung - so doch zu einer erheblichen Linderung von Beschwerden, Schmerzen und Funktionseinbußen geführt haben. Auf diese Erfolge kann die Chirurgie mit Befriedigung zurückblicken. Beispielhaft gestatten Sie mir in diesem Kontext einen Rückblick auf meine chirurgische Weiterbildung an der Medizinischen Hochschule Hannover. Hans Georg  Borst, Harald Tscherne und nicht zuletzt mein verehrter chirurgischer Lehrer Rudolf Pichlmayr waren solche Pioniere. Jeder auf seine Art hat uns, den vielen Chirurgen und Chirurginnen, die die MHH-Schule durchlaufen haben, die begeisternde Faszination der Chirurgie, das unmittelbare Helfen und Heilen in z.T. aussichtslosen Situationen vermittelt. Und es gab etwas, was heute immer mehr verloren geht: wir hatten innerhalb klar definierter Grenzen Freiheiten, das zu machen, was uns besonders interessierte. Last, but not least konnte jeder unter dem Dach des Departments Chirurgie seine Schwerpunkte in der Herz- und Gefäßchirurgie, in der Unfallchirurgie und in der Viszeralchirurgie entwickeln. Dies alles geschah in einer großen gegenseitigen Wertschätzung und mit Respekt vor den Leistungen des anderen. Alle waren Chirurgen und wussten, woher sie kamen, alle hatten gemeinsame und individuelle Ziele. Das Modell kann auf die DGCH, die Fachgesellschaften und den BDC übertragen werden – Einheit in der Vielfalt!
Neben chirurgischen Pionieren und ihren Taten waren die Erfolge der Chirurgie in der Vergangenheit fast immer technologiebestimmt. Zukünftig wird sich die Faszination unseres Faches in bedeutsamer Weise aus den digitalen Entwicklungen generieren. Die  innovativen Ansätze für die präoperative Therapieplanung, die intraoperative Navigation und die Bildgebung in der minimal-invasiven Chirurgie zeigen bereits heute die Wege der Zukunft.  Die Faszination unseres Faches wird darüber hinaus durch die Miniaturisierung des Zugangsweges, durch mechatronische Unterstützungssysteme und durch hochauflösende intraoperative Bildgebung im Sinne des molekularen Imagings gesteigert. Ein Ende dieser Entwicklungen ist nicht erkennbar! Die Zukunft vorherzusagen und Prognosen zu wagen ist schwierig – ich bin mir allerdings sicher, dass die Chirurgie auch zukünftig faszinierend sein wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
um die Weiterentwicklung unseres Faches erfolgreich zu begleiten und die Faszination lebendig zu lassen, bedarf es eines nicht unerheblichen Mutes, Bewährtes zu verlassen und Neues zu wagen. Wie oft hört man, dass etwas nicht geht, statt etwas zu versuchen, was neu ist. Innovationen entstehen nur dadurch, dass neue Wege gegangen werden!
Durch den Mut früherer Chirurgengenerationen wurden Organtransplantationen und multiviszerale Organresektionen bei Malignomen erst möglich. Dadurch wurden die Grenzen der Chirurgie mit dem Ziel der Heilung durch operative Maßnahmen zunehmend verschoben. Ohne den Mut, Risiken einzugehen, wird es nicht gelingen, innovative chirurgische Behandlungskonzepte weiter zu entwickeln. In diesem Zusammenhang beschleicht mich die Sorge, dass ein solcher Mut gegenwärtig und wahrscheinlich auch in der Zukunft immer weniger zu finden ist. Dies hat weniger mit den Chirurgen selbst als vielmehr mit den Erwartungen der Gesellschaft zu tun: Es soll Sicherheit um jeden Preis geben, und das Risiko für eine Behandlung soll komplett eliminiert werden. Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Chirurgen sind sich des Risikos einer Operation sehr wohl bewusst und unternehmen alles, um die Sicherheit des Patienten nicht zu gefährden. Die DGCH ist Mitinitiator des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, und Matthias Rothmund hat dieses Thema bei seinem Kongress 2005 auf die Agenda gesetzt. Gerade weil wir uns um die Sicherheit unserer Patienten kümmern, wissen wir, dass eine 100%ige Sicherheit eine Illusion ist. In der Chirurgie erreiche ich diese Sicherheit nur dann, wenn ich das Skalpell aus der Hand lege. Wenn ich den Mut aufbringe, eine Operation unter schwierigen Bedingungen durchzuführen, sind Komplikationen einzukalkulieren. Mit den zunehmenden Sicherheitsforderungen einer risikoscheuen Gesellschaft sind Innovationen schwer realisierbar. Damit einhergehend wird bei Komplikationen sehr schnell von Fehlern gesprochen. Wenn die falsche Seite operiert wird, wenn ein ungeeignetes Operationsverfahren zur Anwendung kommt - ja, dann handelt es sich um Fehler. Wenn aber ein hochbetagter Patient eine Anastomoseninsuffizienz oder ein schwer polytraumatisierter Patient während der intensivmedizinischen Behandlung eine Pneumonie erleidet, dann sind dies keine Fehler, sondern die Verwirklichung eines der Operation oder der Behandlung innewohnenden Risikos. In dem Bemühen, vereinfachend und plakativ alles auf das eine Wort „Fehler“ zu reduzieren, entsteht so ein gänzlich falscher Eindruck, der bei den Patienten mehr zur Verunsicherung als zur Beruhigung beiträgt. Ich wünsche mir eine sachliche Diskussion, die die Themen „Sicherheit, Qualität der Behandlung und Fehlerkultur“ objektiv und kritisch, aber nicht verurteilend und diffamierend behandelt, denn unverändert gehört unser Gesundheitssystem mit Blick auf den Zugang zu den Leistungen und die erbrachte Behandlungsqualität zu einem der Besten und Leistungsstärksten der Welt. Verbesserungen sind immer möglich. Wenn ich aber den Ärzten wegen ungerechtfertigter Vorwürfe den Mut nehme, im Interesse der Patienten Risiken einzugehen, entsteht eine Defensivmedizin, die unser Gesundheitssystem mit Sicherheit schwächt. Dies kann nicht unser Ziel sein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
an dieser Stelle sei die Frage erlaubt, in wie weit wir selbst auch zu diesen Entwicklungen beigetragen haben. Suggerieren wir nicht selbst, dass Chirurgie immer sicherer wird und wir die dem Eingriff innewohnenden Risiken eliminieren können? Ohne Frage sind Leitlinien und Handlungsempfehlungen unentbehrliche Instrumente zu einer optimierten und sicheren Patientenbehandlung. Mit dem Ruf nach DIN-normierten Zertifizierungen wollen wir die Patientenbehandlung sicherer machen. Das ist aller Ehren wert, aber wir sollten auch bedenken, dass uns dies in unserer diagnostischen und therapeutischen Freiheit immer mehr einschränkt. Es gehört Mut dazu, diese Entwicklungen immer wieder zu hinterfragen. Wenn wir uns alle auf die Prinzipien des guten Arztes besinnen, ist aus meiner Sicht eine Fülle der Regulierungen überflüssig. Christian Friedrich Vahl hat die Merkmale eines guten Chirurgen kürzlich im Deutschen Ärzteblatt zur Diskussion gestellt: Innovativ, funktional, verständlich, unaufdringlich, ehrlich, dem Langzeiterfolg verpflichtet, konsequent, die Natur ehrend und so wenig Chirurgie wie möglich einsetzend.
Wenn wir in dieser Weise als Ärzte agieren, können wir uns auch sehr wohl den ökonomischen Zwängen widersetzen. Als Befürworter einer effektiven und effizienten Patientenbehandlung erkenne ich gegenwärtig, dass wir als Mediziner die Grenzen des ökonomisch Sinnvollen erreicht haben. Wir haben in unserem Beruf Ressourcenbeschränkungen zu akzeptieren. Wer dies als Chirurg verkennt, entzieht sich die Basis für sein Wirken. Aber wir sind in Anbetracht der Finanzierungslücken an Grenzen gekommen, wo wir nur mit sachlichen Argumenten für unsere chirurgischen und ärztlichen Interessen im Sinn der Patienten kämpfen müssen. Dies kann nur in einem konstruktiven und kooperativen Miteinander geschehen. Ich halte es z.B. für unverantwortlich, auf dem Rücken der Patienten in einer insgesamt schrumpfenden Bevölkerung jedes Jahr Fallzahlsteigerungen zu generieren. Zwar lassen der demographische Wandel und die Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten eine Ausweitung der Maßnahmen primär möglich erscheinen, auf der anderen Seite nimmt aber die Gesamtbevölkerung ab. Wodurch, wenn nicht durch Indikationsausweitung und Indikationsbeugung lässt sich also der aller Orten geforderte Fallzahlanstieg realisieren?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
bringen Sie den Mut auf, nicht alles zu machen, was chirurgisch möglich ist! Schon Billroth hat gesagt: „Erst kommt das Wort, dann die Arznei und dann das Messer!“ Dies sollten wir beherzigen, denn nur dann wird es gelingen, den Nachwuchs von der Faszination der Chirurgie zu überzeugen.
Wir haben heute bei der Eröffnungsveranstaltung 200 Studenten im Saal, die ich sehr herzlich begrüße. Gegenwärtig wird viel über die Generation Y geschrieben und gesprochen. Gerade die älteren unter uns haben mit Begriffen wie Work-Life-Balance, Elternteilzeit auch für Männer, geregelte Arbeitszeiten und Sätzen wie „Ich lebe nicht, um zu arbeiten, sondern ich arbeite, um zu leben“ ihre ganz spezifischen Schwierigkeiten. Dieses Klagen ist aus meiner Sicht kontraproduktiv, denn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich geändert, und diesem Wandel haben wir uns anzupassen. Außerdem sind wir die Eltern dieser Generation – das wird häufig vergessen! Die Krankenhäuser und die Fachgesellschaften haben erkannt, dass sie sich diesem Wandel stellen müssen. Heute sind Teilzeitarbeit, Elternzeit, Kitas und vieles mehr gelebte Realität. In den letzten Jahren wurden sehr große Anstrengungen unternommen, um sich den geänderten Ansprüchen des Nachwuchses anzupassen. Denn wenn wir das nicht tun, entzieht sich die Gesellschaft ihrem wichtigsten Potential – den jungen Frauen und Männern, die gut ausgebildet, motiviert und engagiert unsere Zukunft gestalten. Allerdings habe ich bei all den vielen Artikeln, die zur Generation Y und ihren Vorstellungen von Arbeit und Leben erschienen sind, bisher Beiträge eben dieser Generation Y vermisst, was sie denn bereit ist, selbst dazu beizutragen, dass die Zukunft gestaltet wird.

Liebe Studentinnen und Studenten,
sie alle kennen Bill Gates und die Beatles, Informatiker der eine, Musiker die anderen. Jeder für sich hat ein ganz spezifisches Talent, das sie zu Experten und Weltstars gemacht hat. Aber es war nicht nur das Talent – es war besonders das 10.000 Stunden-Prinzip. Bevor Bill Gates Microsoft gründete, hat er unzählige Stunden in der Garage verbracht und programmiert. Bevor die Beatles zu Weltruhm gelangten, haben sie Abend für Abend, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, in Hamburger Clubs gespielt. Malcolm Gladwell hat in seinem Buch „Outliers“ gezeigt, dass etwa 10.000 Stunden nötig sind, um solche Fertig- und Fähigkeiten zu erlangen. Das Talent ist eher nachrangig. Selbiges gilt für die Chirurgie: Es gibt natürlich den besonders talentierten Chirurgen bzw. die talentierte Chirurgin. Allerdings muss in die Chirurgie, die mehrheitlich auf Erfahrungen beruht, eine gewaltige Zeit investiert werden, um ein wirklich guter Arzt und Chirurg zu werden. Wenn Sie sich zu einer Weiterbildung in der Chirurgie entschließen, werden Sie in der 6jährigen Weiterbildungszeit wegen des Arbeitszeitgesetzes sowie aufgrund von Abwesenheiten wegen Urlaub, Krankheit und Fortbildungen etwa 6500 Stunden verbringen. Das reicht nach dem 10.000 Stunden Prinzip nicht, um wirklich gut zu sein. Deshalb mein Appell: Nutzen Sie die zur Verfügung stehende Zeit so gut wie möglich! Bringen auch Sie den Mut auf, sich immer größeren Eingriffen in ihre Arbeitszeitgestaltung zu widersetzen. Sie werden damit ihren eigenen Ansprüchen an Qualität und besonders den Patienten, die sich später vertrauensvoll in ihre Hände begeben, am ehesten gerecht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die Chirurgie hat sich heute wegen der Weiterentwicklungen in den anderen medizinischen Disziplinen vermehrt dem interdisziplinären und auch intersektoralen Diskurs zu stellen. Das Beharren auf chirurgischen Therapieprinzipien, wo Alternativen ggf. besser sind, ist nicht zielführend. Auch hier ist Mut gefordert, sich immer wieder dem interdisziplinären Austausch zu stellen und der chirurgischen Therapie und ihren Möglichkeiten eine Stimme zu geben. Leichter wird dies, wenn wir aufgrund von Daten aus klinischen Studien die Erfolge der Chirurgie belegen können. Die DGCH verfügt mit dem Studienzentrum in Heidelberg über eine exzellente personelle und organisatorische Infrastruktur, so dass klinische Studien mit einer großen Expertise zeitnah und erfolgreich durchgeführt werden können. Aber nicht nur das Studienzentrum, auch die interdisziplinär angelegten chirurgischen Forschungstage zeigen, dass die Forschung in der Chirurgie ein wichtiges Element unseres Handelns ist. Praktische Chirurgie am Patienten auf der einen und Forschung nach dem Prinzip „From Bench to Bedside“ auf der anderen Seite sind die zwei Standbeine einer lebendigen Chirurgie.
Dazu gehört auch, dass wir die bisherigen Publikationswege hinterfragen. In einer Welt, wo digitale Informationsverarbeitung, Wissenszuwachs und Transparenz einen immer höheren Stellenwert erlangen, sei die Frage erlaubt: Wem gehört das Wissen? Ist es gerechtfertigt, dass mit öffentlichen Geldern geförderte Studien und deren Ergebnisse von Verlagen publiziert werden, denen der Autor das Copyright an den Daten und dem Manuskript abtritt und wo Herausgeber und Reviewer ehrenamtlich tätig sind? Bereits im Oktober 2003 haben u.a. die DFG und die Max-Planck-Gesellschaft die Berliner Erklärung zum freien wissenschaftlichen Datenverkehr unter dem Stichwort „Open Access“ unterzeichnet. Mittlerweile haben sich weltweit mehr als 435 Institutionen dieser Bewegung angeschlossen. Nach Plänen der EU müssen zukünftig die Daten der durch die EU geförderten Forschungsprojekte als Open Access zugänglich machen. Mir ist durchaus bewusst, dass Impact-Faktoren für die berufliche Karriere des chirurgischen Nachwuchses und den Ruf der Universitätskliniken essentiell sind. Klar ist auch, dass bei Open Access ein gefährlicher Wildwuchs blüht. Dies sollte uns nicht den Mut nehmen, auch hier neue Wege zu beschreiten. Die DGCH sollte ihr eigenes Online-Journal als Open Access Paper herausbringen. Unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ist ein solch großes Potential vorhanden, dass wir es in der Hand haben, ein qualitativ hochwertiges Open Access Produkt auf die Beine zu stellen. Die Max-Planck-Gesellschaft kann uns als Vorbild dienen: Seit 2012 gibt es das Open Access Journal „Elife“ unter ihrer Federführung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
so wichtig die Forschung und Erzielung objektivierbarer Daten für eine gute Patientenbehandlung sind, so sehr drohen wir angesichts der damit verbundenen Forderung nach einer Evidenz-basierten Medizin als reine Wissenschaftler betrachtet zu werden. Ist das allerdings noch das Bild des Arztes, das die Gesellschaft und wir von uns gerne hätten? Was hat die angestrebte Objektivierbarkeit unseres Handelns mit ärztlicher Kunst, mit unserem Beruf zu tun? Jeder kennt den Begriff der ärztlichen Kunst, er stößt auf eine breite allgemeine Akzeptanz. Dennoch bestehen beim zweiten Blick Unklarheiten und Ambivalenzen (Merl, Augsburg). Eine inhaltliche und empirische Präzisierung des Begriffes fehlt. In diesem Zusammenhang muss uns klar sein, dass Medizin und besonders die Chirurgie keine Wissenschaft per se sind. Die Chirurgie ist eine Erfahrungswissenschaft, die sich der Ergebnisse anderer Wissenschaften wie Biochemie und Physik lediglich bedient. Die für die Chirurgie entscheidenden Faktoren sind nach Hippokrates die Erkrankung, der Kranke und der Arzt - mit dem Arzt als Diener der Heilkunst. Die Arzt-Patientenbeziehung steht im Mittelpunkt der Heilkunst. Die Verwissenschaftlichung und Technisierung der Medizin sowie die Ökonomisierung münden zunehmend in ein objektivierendes Handeln. Wegen der Besonderheit der Arzt-Patientenbeziehung jedoch ist unser Handeln eben nicht objektivierend, sondern wegen der Einbeziehung der sinnlich-körperlichen Ebene in höchstem Maße subjektivierend – subjektivierendes, auf den Patienten in seiner ganzen Besonderheit ausgerichtetes Handeln ist das herausragende Merkmal ärztlicher Tätigkeit. Erst vor diesem Hintergrund werden die unterschiedlichen Facetten der ärztlichen Kunst wie der ärztliche Blick, die Intuition, das ärztliche Gespür abseits objektivierenden Denkens begreifbar (Merl). Wenn wir die Chirurgie als reine Wissenschaft betrachten würden, so sind die erzielten Ergebnisse – wie in jeder Wissenschaft – eine wertneutrale Wahrheit. Dies entspricht aber nicht der Realität. Weder die Ergebnisse randomisierter Studien noch andere Methoden der Datengenerierung können in der konkreten Arzt-Patientenbeziehung spezifische Handlungen diktieren, sondern unsere Entscheidungen basieren immer auch auf Werten, Einschätzungen und Beurteilungen. Sie können nicht spezifiziert werden, weil sie sich von Fall zu Fall unterscheiden. Gerade in Situationen, die durch eine Fülle individueller Faktoren in ihrer Einschätzung schwierig sind, ist subjektivierendes Handeln entscheidend. Dies gilt für die kommunikativen Aspekte unserer Tätigkeit, aber auch für den Umgang mit Medizintechnik und solch objektiven Daten wie Laborparametern. Schon Rudolf Zenker hat dies sehr treffend beschrieben: „Eine Naturwissenschaft ist die Heilkunde nicht geworden - und wird es auch schwerlich jemals werden. Dazu sitzt ihr die Humanität zu tief im Blute.” Ärztliche und auch chirurgische Kunst stellt immer den Menschen in den Mittelpunkt, sie ist subjektivierend auf der Basis von Können und Erkennen, sie impliziert Wissen, Erfahrung und den Einsatz von Werkzeugen. Vor allem aber – sie wird erlernt. Die von Zenker angesprochene Humanität manifestiert sich in der Fähigkeit zuzuhören, Empathie auszudrücken, zu informieren, Solidarität zu zeigen und für uns als Ärzte die Tatsache, Teil der Behandlung zu sein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
im Zuge der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen, aber auch aufgrund unseres eigenen Selbstbildes generieren wir uns mehr und mehr als Heilsbringer, die mit Verheißungen – denken Sie nur an die narbenlose Chirurgie – die Anspruchshaltung, die wir im Grunde ablehnen, weiter befeuern. Wir setzen auf somatische kurative Heilung, wo wir eigentlich nur lindern.  Wir berichten über niedrige Morbidität und Letalität selbst nach größten Eingriffen, ohne unsere Langzeitergebnisse wirklich zu kennen. Und wie oft wird über Neuerungen berichtet, wo der Blick in die Historie helfen würde zu erkennen, dass vieles von dem, was heute als neu verkauft wird, bereits vor vielen Jahren und Jahrzehnten von unseren chirurgischen Vätern gedacht wurde. Vor allem aber sind wir häufig noch mit Allmachtsphantasien beschäftigt, wo im Sinne der von Zenker angesprochenen Humanität Demut zu bevorzugen wäre. Ärztliche und chirurgische Kunst kann sich nur da im subjektivierenden Handeln verwirklichen, wo wir Demut und Selbstkritik walten lassen. Denken Sie an die Grenzen der intensivmedizinischen Behandlung, wo manches Mal alle Bemühungen erfolglos sind. Denken Sie an die technisch perfekt durchgeführte Operation, bei der es dann doch zu Komplikationen kommt. Demut als „Gesinnung des Dienenden“ (Muhl) ist eine für jeden Chirurgen unerlässliche Eigenschaft. Wir haben zu akzeptieren, dass es Grenzen gibt, die wir nicht überschreiten dürfen. Wir müssen “Hybris, Narzissmus und Selbstüberschätzung“ (Muhl) vermeiden. Denn erst mit der Anerkennung, dass es Dinge gibt, die außerhalb unserer Fähigkeiten und Tätigkeiten liegen, werden wir das sein, was der Patient erwartet: Der Diener der ärztlichen Kunst! Mut und Demut sind die zwei Seiten einer reifen chirurgischen Persönlichkeit und seiner Souveranität im Handeln!

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
nichts ist so beständig wie der Wandel! Wenn wir uns den Herausforderungen der Gegenwart und erst recht der Zukunft stellen, werden wir mit der Faszination exzellenter chirurgischer Technik, dem Mut zu chirurgischer Grenzverschiebung und der Demut bei der Betrachtung unserer eigenen Person und unserer Ergebnisse eine gelungene chirurgische Symbiose im Sinne der von uns allen angestrebten Heilkunst  erzielen. Nur wenn wir grundsätzliche ethische und moralische Vorstellungen beherzigen, werden wir in dem Spannungsfeld aus Wissenschaftlichkeit, Anspruchsdenken, finanziellen Rahmenbedingen und sich änderndem Zeitgeist bestehen. Nur dann sind wir kompetente, zugewandte, somit gute Ärzte. Das macht das Besondere unseres Berufes aus! Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass dies so bleibt – die Patienten werden es uns danken!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Prof. Dr. med. Joachim Jähne
Präsident 2013/2014

Es gilt das gesprochene Wort!